Berlin. Deutschland steht vor einem drastischen Kurswechsel im Zivilschutz: Eine Million Schutzräume sollen in den kommenden Jahren geschaffen werden. Das kündigte der Präsident des Bundesamts für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe (BBK), Ralph Tiesler, in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung an. Der Grund: Die wachsende Bedrohung durch einen möglichen Angriffskrieg in Europa.
„Wir müssen davon ausgehen, dass ein großflächiger Krieg in Europa kein theoretisches Szenario mehr ist“, so Tiesler. Vor diesem Hintergrund sei es notwendig, innerhalb kürzester Zeit ausreichend Schutzplätze für die Bevölkerung zu schaffen.
Zivilschutz als nationale Aufgabe – Milliardeninvestitionen geplant
Das Konzept: Bestehende Infrastrukturen wie Tiefgaragen, U-Bahn-Stationen, Tunnel und Kellerräume öffentlicher Gebäude sollen in Schutzräume umfunktioniert werden. Der Vorteil: Der Umbau könnte deutlich schneller erfolgen als der Neubau klassischer Bunkeranlagen.
Tiesler geht davon aus, dass der Ausbau des Zivilschutzes rund 30 Milliarden Euro kosten wird – verteilt über zehn Jahre. Der Fokus liegt dabei nicht nur auf baulichen Maßnahmen. Auch Alarmsysteme, Versorgungseinrichtungen und die langfristige Aufenthaltsmöglichkeit in Schutzräumen – mit Toiletten, Verpflegung und Notbetten – sollen sichergestellt werden.
Zustand der alten Schutzräume: erschreckend schlecht
Die Realität sieht derzeit düster aus. Von den ursprünglich mehreren Tausend Schutzbauten aus dem Kalten Krieg sind heute nur noch 579 offiziell registriert und könnten rund 478.000 Menschen Schutz bieten. Seit 2007 wurden keine Mittel mehr in deren Instandhaltung gesteckt. Die Bundesregierung hatte die „funktionale Instandhaltung öffentlicher Schutzräume“ damals vollständig eingestellt.
Privater Bunkerbau boomt – Europa rüstet sich
Während der Staat Nachholbedarf hat, reagiert die Bevölkerung bereits. Die Nachfrage nach privaten Schutzräumen ist sprunghaft gestiegen. Bunkerhersteller in Deutschland verzeichnen einen Auftragsboom. „Die Anfragen haben sich in den letzten zwei Jahren vervielfacht“, erklärt Peter Aurnhammer, Geschäftsführer des Unternehmens Deutscher Bunker Makler.
Auch im europäischen Ausland ist die Lage ähnlich. Besonders in Spanien, Frankreich und den baltischen Staaten steigt der Bau privater Schutzbunker rasant – eine Folge zunehmender geopolitischer Spannungen.
EU will Krisenvorsorge europäisch denken
Auf europäischer Ebene forciert die EU-Kommission seit März 2025 eine neue Gesamtstrategie zur Krisenresilienz. Ursula von der Leyen sprach von „neuen Realitäten“, die ein hohes Maß an Vorsorge erforderten. Die EU setzt auf koordinierte Notfallprotokolle, grenzüberschreitende Zusammenarbeit und Aufrüstung im Rahmen der NATO. Geplant ist unter anderem eine 30-prozentige Erhöhung der militärischen Fähigkeiten.
Auch Deutschland bereitet sich militärisch vor. Verteidigungsminister Boris Pistorius kündigte an, dass die Bundeswehr 60.000 zusätzliche Soldaten rekrutieren müsse, um den gestiegenen Anforderungen gerecht zu werden.
„Friedensdividende vorbei – Bevölkerung muss mitziehen“
Bevölkerungsschützer wie Andreas Kling, Autor des Buches Sicher trotz Katastrophe, sehen in der aktuellen Entwicklung ein notwendiges Erwachen: „75 Jahre Frieden haben viele in einer trügerischen Sicherheit gewiegt. Doch die Bedrohung ist real – und die Bevölkerung muss lernen, damit umzugehen.“
Auch in Schulen, Medien und durch Warnsysteme wie die App NINA soll das Bewusstsein für Notlagen geschärft werden. Denn klar ist: Schutzräume allein bieten keinen vollständigen Schutz. Es braucht ein gesamtgesellschaftliches Verständnis von Vorsorge.
Deutschland plant nicht weniger als die Rückkehr in eine Ära des umfassenden Bevölkerungsschutzes – mit Bunkern, Alarmplänen und Vorräten. Was einst kalter Krieg war, ist heute wieder Realität geworden.