Neu-Delhi. Indien steht an einem Wendepunkt seiner Außenpolitik. Jahrzehntelang verfolgte die Regierung in Neu-Delhi eine Linie der „strategischen Autonomie“ – keine Bündnistreue zu Westen oder Osten, sondern ein selbstbestimmter Kurs zwischen den Machtblöcken. Doch nun zwingt der zunehmende Druck aus Washington das Land zu einer historischen Kurskorrektur.
US-Präsident Donald Trump kündigte Mitte Oktober an, dass Indien künftig kein Öl mehr aus Russland beziehen werde – eine Entscheidung, die auf massiven Wirtschaftssanktionen und Strafzöllen der USA gegen die indische Republik basiert. Für Premierminister Narendra Modi ist das ein Balanceakt zwischen wirtschaftlicher Pragmatik und nationaler Souveränität. Die Abkehr von russischem Öl bedeutet nicht nur eine energiepolitische Wende, sondern auch eine Verschiebung in der geopolitischen Selbstwahrnehmung einer aufstrebenden Weltmacht.
Von der Neutralität zur Neuausrichtung
Seit der Unabhängigkeit 1947 bemühte sich Indien, seine Beziehungen zwischen den Großmächten auszubalancieren – ein Grundpfeiler seiner Außenpolitik. Doch die jüngsten Sanktionen aus Washington und die verschärfte Rivalität zwischen den USA, Russland und China zwingen Neu-Delhi, seine Position neu zu bewerten. Das Außenministerium erklärte, man wolle die „Energiebeschaffung künftig diversifizieren“. Zwischen den Zeilen: Das Ende der jahrzehntelangen Abhängigkeit von Moskau.
Zugleich wächst der Druck aus dem Westen, sich klarer zu positionieren – nicht zuletzt wegen des Ukraine-Kriegs. Indien hat bisher weder Sanktionen gegen Russland mitgetragen noch sich dem westlichen Lager eindeutig angeschlossen. Nun wird deutlich: Die Zeit der diplomatischen Äquidistanz geht zu Ende.
Indiens Luftwaffe überflügelt China
Während außenpolitisch noch gezögert wird, zeigt sich militärisch ein neues Selbstbewusstsein. Laut dem World Directory of Modern Military Aircraft ist Indien inzwischen die drittstärkste Luftwaffe der Welt – hinter den USA und Russland, aber noch vor China. 1.716 Flugzeuge, darunter 31,6 Prozent Kampfflugzeuge und fast ein Drittel Hubschrauber, machen die indische Luftwaffe zu einer der vielseitigsten der Welt.
Die Operation „Sindoor“ im Mai, eine Serie präziser Luftschläge gegen Ziele in Pakistan, demonstrierte die neue Schlagkraft der indischen Streitkräfte. Doch die Mission offenbarte auch Schwächen: Verluste moderner Rafale-Kampfjets zeigten die Grenzen der militärischen Eigenproduktion und den anhaltenden Bedarf an ausländischer Technologie.
Indiens Verteidigungsministerium plant derzeit den größten Rüstungsauftrag seiner Geschichte – 180 Mehrzweckkampfflugzeuge, teils Eigenentwicklungen, teils internationale Beschaffungen. Dennoch bleibt der Modernisierungsstau erheblich: Schätzungen zufolge fehlen rund 400 Maschinen, um den angestrebten Standard von 56 Luftstaffeln zu erreichen.
Zwischen Washington, Moskau und Peking
Indien steht zwischen den Fronten. Im September posierte Modi beim BRICS-Gipfel gemeinsam mit Wladimir Putin und Xi Jinping – ein Signal, das in Washington Unmut auslöste. Trump kommentierte auf Truth Social: „Sieht so aus, als hätten wir Indien und Russland an das tiefste, finsterste China verloren.“
Doch so eindeutig ist die Lage nicht. Indien ist sowohl Mitglied der BRICS-Staaten – gemeinsam mit Russland und China – als auch Teil des QUAD-Bündnisses mit den USA, Japan und Australien. Damit verkörpert das Land den seltenen Versuch, zwei konkurrierende Machtblöcke gleichzeitig zu bedienen. Beobachter sehen darin keinen Widerspruch, sondern eine bewusste Strategie: Indien will als dritter Pol im globalen Machtgefüge auftreten – unabhängig, aber einflussreich.
Aufstieg mit Hindernissen
Indien zählt 1,45 Millionen aktive Soldaten und verfügt über nukleare Kapazitäten. Seine junge Bevölkerung und rasant wachsende Wirtschaft machen das Land zu einem Motor des globalen Südens. Doch der Weg zur Supermacht ist steinig: Armut, Korruption und soziale Ungleichheit bremsen die Entwicklung. Gleichzeitig mehren sich Sorgen über demokratische Rückschritte unter Premier Modi.
Trotz aller Widersprüche gilt: Indien ist keine klassische West- oder Ostmacht. Es ist die aufstrebende Nation, die versucht, in einer sich neu ordnenden Welt ihr eigenes Machtzentrum zu schaffen. Wie stark sie diesen Kurs beibehalten kann, hängt davon ab, ob Neu-Delhi gelingt, wirtschaftliche Abhängigkeiten und geopolitischen Druck in eine neue Form von globaler Unabhängigkeit zu verwandeln.


