Deutschland ist im Ernstfall verwundbar

Symbolbild. Foto: Smigel/CC BY-SA 4.0

Symbolbild. Foto: Smigel/CC BY-SA 4.0

Berlin. Was passiert, wenn bei einem Unfall, einem Terroranschlag oder einem Naturereignis plötzlich Hunderte Verletzte versorgt werden müssen – und das Gesundheitssystem überfordert ist? Diese Frage stellen sich derzeit führende Fachleute aus der Intensiv- und Notfallmedizin in Deutschland. Ihre Antwort ist alarmierend: Deutschland ist auf den Ernstfall nicht ausreichend vorbereitet – und die Warnzeichen mehren sich.

Krisenszenario: 1000 neue Intensivpatienten – jeden Tag

Ein besonders brisantes Szenario steht im Raum: Bis zu 1000 neue Intensivpatienten pro Tag könnten laut Einschätzung der Bundeswehr künftig auf das deutsche Gesundheitssystem zukommen – insbesondere durch die Verlegung von Schwerverletzten aus der Ukraine, wo das medizinische System bereits unter extremer Belastung steht. Deutschland fungiert dabei als europäische Drehscheibe für medizinische Evakuierungen.

In den Kriegsgebieten herrscht laut Oberfeldärztin Diana Sauer vom Bundeswehrzentralkrankenhaus Koblenz bereits eine Dauer-Triage – also die schwerwiegende Entscheidung, wer medizinisch versorgt werden kann und wer nicht, weil Ressourcen wie Beatmungsgeräte oder Intensivbetten nicht ausreichen. Eine solche Situation könnte auch hierzulande eintreten, wenn keine wirksamen Konzepte greifen.

Die Lehren aus Corona – und ihre Grenzen

Während der Corona-Pandemie mussten in Deutschland bereits Operationen verschoben und Ressourcen rationiert werden. Auch damals mangelte es phasenweise an Schutzausrüstung, Desinfektionsmitteln und Medikamenten. Diese Schwächen im System sind nach Ansicht der Expertinnen und Experten bis heute nicht nachhaltig behoben worden.

„Was fehlt, haben wir zuletzt oft erst dann gemerkt, als das Chaos schon ausbrach“, warnt Grietje Beck, Präsidentin des Berufsverbands der Deutschen Anästhesisten. Dabei sei klar: „Die nächste Krise kommt bestimmt – und sie könnte größer sein als alles, was wir bisher erlebt haben.“

Digitalisierung als Lebensretter – aber nur, wenn sie funktioniert

Ein zentrales Element für eine bessere Vorbereitung ist die konsequente Digitalisierung des Gesundheitssystems. Intensivmediziner Gernot Marx, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Anästhesiologie, fordert digitale Echtzeit-Erfassung aller Krankenhaus- und Intensivkapazitäten, um Patienten im Notfall schneller und gezielter verteilen zu können. Auch Telemedizin könne Leben retten – etwa, wenn ein Experte aus einem anderen Bundesland bei einem Einsatz in der Ferne unterstützend eingreift.

Kleeblatt-System braucht Update – „Lösungen sind da, Umsetzung fehlt“

Ein weiteres Beispiel: Das „Kleeblatt-System“, das während der Corona-Krise zur bundesweiten Verteilung schwer Erkrankter eingeführt wurde, funktionierte laut Experten „weitgehend geräuschlos“. Doch für den dauerhaften Betrieb und eine technisch modernisierte Neuauflage („Kleeblatt 2.0“) fehlt bislang die politische und finanzielle Rückendeckung.

„Die Lösungen sind vorhanden“, betont Jan-Thorsten Gräsner, Vertreter der Notfallmedizin. „Doch bislang fehlt die praktische Umsetzung.“ Was funktioniere, werde nicht dauerhaft etabliert – mit fatalen Folgen.

Übungen für den Ernstfall? In der Theorie ja – in der Praxis selten

Das größte Problem: Notfallpläne existieren, werden aber zu selten geprobt. Laut Beck reichen Krisenübungen alle zehn Jahre nicht aus, um in einer realen Katastrophe effizient handeln zu können. „Regelmäßige Simulationen kosten Zeit, Personal und Geld“, räumt sie ein. Doch wer sich diese Investition spare, riskiere im Ernstfall chaotische Zustände.

Blutknappheit – ein unterschätztes Dauerrisiko

Neben personellen und strukturellen Schwächen bedroht ein weiterer Engpass die Notfallversorgung: Blutkonserven. Besonders universal verträgliche Blutprodukte sind bereits im Regelbetrieb knapp. Regelmäßige Blutspenden sind deshalb ein unsichtbarer, aber unverzichtbarer Pfeiler der Versorgungsstabilität. „Jede Spende zählt“, sagt Bundeswehrmedizinerin Sauer – besonders in Krisenzeiten.

Die deutsche Notfall- und Intensivmedizin steht vor gewaltigen Herausforderungen. Künftige Großschadenslagen, Kriegsfolgen und Klimakatastrophen könnten das System schnell an seine Grenzen bringen. Zwar liegen tragfähige Konzepte und Technologien bereit – doch es fehlt an Umsetzung, Übung und politischem Willen. Die Warnungen der Expertinnen und Experten sind unmissverständlich: Wer jetzt nicht handelt, riskiert im Ernstfall Menschenleben.

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