Berlin. Die gesetzliche Pflegeversicherung steuert auf eine massive Finanzierungslücke zu: Rund zwei Milliarden Euro fehlen im Jahr 2026. In Berlin wird deshalb über drastische Einschnitte diskutiert – darunter auch die mögliche Streichung des Pflegegrads 1.
Über 860.000 Menschen betroffen
Ende 2024 waren nach Angaben der „Bild am Sonntag“ rund 863.000 Menschen in dieser niedrigsten Pflegestufe eingestuft. Anspruchsberechtigt sind sie derzeit auf einen monatlichen Entlastungsbetrag von 131 Euro sowie Zuschüsse für Wohnraumanpassung oder einen Hausnotruf. Sollte Pflegegrad 1 gestrichen werden, könnten jährlich etwa 1,8 Milliarden Euro eingespart werden – ein erheblicher Beitrag zur Konsolidierung der Pflegekassen.
Gesundheitsministerium: Prüfungen laufen
Ein Sprecher des Bundesgesundheitsministeriums erklärte, die Bund-Länder-Arbeitsgruppe zur Pflegereform befasse sich umfassend mit Einnahmen und Ausgaben. Ergebnisse würden Mitte Oktober erwartet.
SPD weist Kürzungspläne zurück
Christos Pantazis, gesundheitspolitischer Sprecher der SPD-Fraktion, erteilte den Überlegungen eine klare Absage: „Als SPD-Fraktion verwehren wir uns entschieden gegen Leistungskürzungen in der Pflegeversicherung.“ Er warnte, ständige Kürzungsdebatten verunsicherten die Bevölkerung und spielten Populisten in die Hände. Bereits in den Koalitionsverhandlungen habe die SPD den Vorschlag der Union abgelehnt.
Grüne und Linke fordern Gegenfinanzierung
Auch aus der Opposition kommt deutliche Kritik. Simone Fischer, pflegepolitische Sprecherin der Grünen, fordert die Rückführung der Corona-Mehrkosten von sechs Milliarden Euro in die Pflegekassen sowie einen Ausgleich zwischen gesetzlicher und privater Pflegeversicherung. Ähnlich äußerte sich Ateş Gürpınar von der Linken, der die geplante Maßnahme als Angriff auf die Schwächsten bezeichnete.
Sozialverbände schlagen Alarm
Der Paritätische Wohlfahrtsverband und die Deutsche Stiftung Patientenschutz warnen vor verheerenden Folgen. „Die Abschaffung der Pflegestufe 1 wäre ein fatales Signal – für Betroffene wie für pflegende Angehörige“, sagte Hauptgeschäftsführer Joachim Rock. Eugen Brysch von der Stiftung Patientenschutz erinnerte daran, dass Pflegegrad 1 2017 eingeführt wurde, um insbesondere demenziell Erkrankte besser abzusichern. Ein Rückschritt würde Glaubwürdigkeit und Berechenbarkeit der Sozialpolitik massiv beschädigen.
Pflege in Deutschland stark von Angehörigen getragen
Rund 80 Prozent der Pflegebedürftigen werden zu Hause versorgt. Gerade hier spiele der Pflegegrad 1 eine zentrale Rolle: Er erleichtere mit Einkaufshilfen, Haushaltshilfen oder Notrufsystemen den Alltag der Familien. Mit der Reform 2017 war die Umstellung von drei Stufen auf fünf Pflegegrade erfolgt – um die tatsächlichen Einschränkungen der Menschen präziser erfassen zu können.
Ob der Pflegegrad 1 tatsächlich zur Disposition steht, wird sich spätestens im Herbst zeigen. Klar ist schon jetzt: Der Streit über die Finanzierung der Pflegeversicherung entwickelt sich zu einem zentralen Konfliktthema der Sozialpolitik.