Die Niederlande sehen sich als erstes EU-Land gezwungen, den Strom zu rationieren. Der Grund: Das Stromnetz ist überlastet und kann mit der rasant steigenden Nachfrage nicht Schritt halten. Wie die Financial Times unter Berufung auf den Netzbetreiberverband Netbeheer Nederland berichtet, stehen Tausende Unternehmen, öffentliche Einrichtungen und Haushalte auf Wartelisten für Stromanschlüsse – ein alarmierender Zustand mitten im Herzen Europas.
Elektrifizierung stößt an Grenzen
Der Ausstieg aus der Gasförderung im Großfeld Groningen im Jahr 2023 hat die Elektrifizierung von Wirtschaft und Privathaushalten deutlich beschleunigt. Doch das niederländische Stromnetz ist auf diese Transformation nicht vorbereitet: Über 11.900 Unternehmen, darunter auch kritische Infrastrukturen wie Krankenhäuser und Feuerwachen, warten derzeit auf einen Anschluss. Besonders betroffen ist die Hightech-Region Brainport Eindhoven, Heimat des globalen Chipmaschinenherstellers ASML.
Dort wird es voraussichtlich bis 2027 keine nennenswerten neuen Netzkapazitäten geben. „Alles wird elektrisch, aber die Infrastruktur hinkt hinterher“, warnte Eindhovens Bürgermeister Jeroen Dijsselbloem. Landesweit fehlen zudem rund 28.000 Techniker, um notwendige Infrastrukturprojekte umzusetzen.
Investitionen stocken – Wachstum gefährdet
Trotz laufender Bauarbeiten an Kabeln und Umspannwerken drohen in einigen Regionen neue Stromanschlüsse erst Mitte der 2030er-Jahre. Unternehmen überdenken bereits Investitionspläne – die Energiekrise droht zum Wachstumshemmnis zu werden. Um Kapazitäten zu entlasten, bieten Netzbetreiber spezielle Verträge an: Kunden, die außerhalb der Spitzenzeiten (16–21 Uhr) Strom verbrauchen, zahlen weniger. Großverbrauchern kann der Strom zu Spitzenzeiten ganz untersagt werden.
200 Milliarden Euro Investitionsbedarf
Die niederländische Regierung beziffert den notwendigen Investitionsbedarf für den Netzausbau bis 2040 auf 200 Milliarden Euro. Teilweise sollen die Kosten durch den geplanten Verkauf des deutschen TenneT-Netzes (geschätzt: 20 Milliarden Euro) gedeckt werden. Der Großteil jedoch wird über steigende Netzentgelte finanziert – schon heute zählen die niederländischen Strompreise zu den höchsten in Westeuropa.
Europaweit droht ähnliches Szenario
Energieexperten sehen in der niederländischen Krise ein deutliches Frühwarnsignal für Deutschland und andere EU-Staaten. Auch in Belgien, Großbritannien und Ostdeutschland drohen Engpässe. In Deutschland verläuft der Netzausbau schleppend, während Strombedarf und Einspeisung erneuerbarer Energien steigen. Laut Bundesnetzagentur sind bis 2045 rund 4.800 Kilometer neue Leitungen nötig. Verzögerungen könnten auch hier zu Rationierungen führen.
„Ein Stromnetz lässt sich nicht über Nacht aufbauen“, so Zsuzsanna Pató von der Energie-NGO RAP. Ohne drastisch beschleunigten Ausbau droht Europas Energiewende an ihrer Versorgungsinfrastruktur zu scheitern.