Am vergangenen Samstagabend wurde im Süden Taiwans der letzte verbliebene Atomreaktor des Landes abgeschaltet. Block 2 des Kernkraftwerks Maanshan ging planmäßig um 22 Uhr Ortszeit vom Netz. In den kommenden Tagen sollen die Brennstäbe entfernt und in einem Abklingbecken gelagert werden, wie der Energieversorger Taipower bekannt gab. Mit diesem Schritt ist der 2016 beschlossene Atomausstieg formell abgeschlossen – zumindest vorerst.
Wachsende Zweifel am Atomausstieg
Der Ausstieg ist in Taiwan nicht unumstritten. Die wachsende Nachfrage nach zuverlässiger Energie – insbesondere durch die boomende Halbleiterindustrie – und die geopolitische Bedrohung durch China stellen das Land vor große Herausforderungen. Über 80 Prozent seines Stroms erzeugt Taiwan mittlerweile aus importiertem Flüssigerdgas (LNG) und Kohle, was das Land im Falle eines militärischen Konflikts oder einer Blockade extrem verwundbar macht.
Obwohl die Kernkraft zuletzt nur vier Prozent des Strommixes ausmachte, war sie die einzige große Energiequelle, die unabhängig vom Ausland betrieben werden konnte. Angesichts der Risiken fordern viele Stimmen in Politik und Wissenschaft eine Rückkehr zur Atomenergie.
Gesetz für Laufzeitverlängerung verabschiedet
Das taiwanische Parlament, das von der oppositionellen Kuomintang (KMT) dominiert wird, hat kürzlich eine Gesetzesänderung verabschiedet, die Laufzeitverlängerungen von stillgelegten Reaktoren um bis zu 20 Jahre erlaubt. Eric Chu, Vorsitzender der KMT, warnt: „Fehlt es an Strom, ist sowohl die wirtschaftliche als auch die nationale Sicherheit gefährdet.“ Präsident Lai Ching-te von der regierenden Demokratischen Fortschrittspartei (DPP) zeigt sich offen für moderne Reaktortechnologien – unter der Bedingung, dass Sicherheits- und Endlagerfragen geklärt sind. Ministerpräsident Cho Jung-tai erklärte, man werde sich einer Wiederinbetriebnahme nicht widersetzen, die nötigen Prüfverfahren würden aber über drei Jahre dauern.
Ein Ausstieg mit historischen Wurzeln
Der Atomausstieg war unter dem Eindruck der Reaktorkatastrophe von Fukushima 2011 beschlossen worden. Wie Japan ist auch Taiwan stark erdbebengefährdet, was das Risiko von Nuklearunfällen erhöht. Auch politische und gesellschaftliche Faktoren spielten eine Rolle: Frühere Regierungen hatten atomaren Abfall auf der abgelegenen Insel Lanyu gelagert, ohne das dort lebende indigene Tao-Volk zu informieren. Die DPP entschuldigte sich später für dieses Vorgehen.
Ersatz durch Erneuerbare stockt
Der Ausstieg war mit dem Ziel verbunden, bis 2025 mindestens 20 Prozent des Stroms aus erneuerbaren Quellen zu gewinnen. Dieses Ziel wurde bislang klar verfehlt – der Anteil lag zuletzt bei nur rund elf Prozent. Stattdessen dominieren LNG (rund 42 Prozent) und Kohle den Energiemix.
Problematisch ist, dass Taiwan vollständig auf Importe angewiesen ist. Die Insel besitzt nur zwei LNG-Terminals, die zudem bereits ausgelastet sind. Auch die Speicherkapazitäten sind unzureichend: Durchschnittlich kann Gas nur für 13 Tage gelagert werden – im Sommer sinkt diese Reserve aufgrund des hohen Strombedarfs auf acht Tage. Zum Vergleich: Südkorea lagert Gas für 50 Tage, Japan für 30.
Versorgungssicherheit gefährdet
Taiwans Energieinfrastruktur ist insgesamt anfällig. Wiederholt kam es in den vergangenen Jahren zu großflächigen Stromausfällen – nicht zuletzt wegen eines veralteten Stromnetzes. Der Norden des Landes, insbesondere Taipeh und das Halbleiterzentrum Hsinchu, verbraucht am meisten Strom, während der Süden den Großteil der Energie erzeugt. Um die Versorgungssicherheit zu verbessern, plant Taipower, in diesem Jahr vier neue Gaskraftwerke mit einer Gesamtleistung von fast fünf Gigawatt ans Netz zu bringen.
Rückkehr zur Atomkraft nicht ausgeschlossen
Trotz des symbolträchtigen Atomausstiegs bleibt die Zukunft der Kernenergie in Taiwan offen. Viele der abgeschalteten Reaktoren sind technisch noch intakt und könnten wieder hochgefahren werden. Der Kernphysiker Yeh Tsung-kuang betont: „Solange die Anlagen nicht endgültig abgebaut sind, besteht immer die Möglichkeit einer Rückkehr.“ Die politische Diskussion ist bereits im Gange – und mit Blick auf Versorgungssicherheit und geopolitische Risiken könnte die Kernkraft in Taiwan schon bald ein Comeback erleben.